Von BPV zu LAV

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Das traditionelle Lernen BPV (büffeln, prüfen, vergessen) wird schon länger kritisiert. Aber weshalb ist es so schwierig davon wegzukommen? Kein Bewertungssystem beschreibt BPV besser als Noten. Das Lernen von heute geht nach dem Schema LAV: Lernen, anwenden, verstehen. LAV ist nicht schwierig umzusetzen, aber es fordert uns heraus Schule neu zu denken.

Ist Lernen überprüfbar?

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich meinen Didaktiklehrer auf die Palme bringen konnte, wenn ich in den Lernzielen einer Unterrichtseinheit geschrieben hatte: «Am Ende der Lektion sollten die SuS die Verdoppelung mit tt verstehen.» Er ärgerte sich dann lautstark: «Verstehen ist ein Prozess, dass ist kein Lernziel!» Wie recht er hatte. Die Folge davon war, dass wir einfache überprüfbare Lernziele aufschrieben wie: «Die SuS können 5 Wörter mit Doppel-t aufschreiben.»

Heute haben sich die Begriffe verändert. Lernziele sind jetzt Kompetenzen, ganze 453 sind es im Lehrplan 21 unterteilt in 3123 Kompetenzstufen. Das gibt für die 1755 Schultage von der 1. bis zur 9. Klasse rund 1.77 Kompetenzstufen, die ein Kind heute pro Tag erklimmen muss. Im besten Fall - zieht man Feiertage, Krankheitstage, Lehrerfortbildungen und andere Ausfälle dazu, sind es realistischerweise eher 2 pro Tag. Neben dem ohnehin schon (über)befrachteten Lehrplan gibt es den Trend alles immer früher machen zu müssen. Frühfranzösisch, Frühenglisch, musikalische Früherziehung etc. Weshalb um alles in der Welt muss alles immer früher stattfinden? Wir leben immer länger und lebenslanges Lernen ist längst ein anerkannter Konsens. Es ist also völlig unsinnig, alles in immer grösserem Volumen immer früher anzubieten. Kein Wunder, dass viele Kinder heute Defizite in Fähigkeiten haben, die früher ganz normal vorausgesetzt werden konnten: Nur wenige meiner Schülerinnen und Schüler können noch eine einigermassen gerade Linie mit der Schere schneiden, von einer komplizierteren Form gar nicht zu reden. Viele haben grösste Mühe, ihre Meinung zu einem Thema zu formulieren und diese mit eigenen Erlebnissen zu begründen. Von gelesenen Texten haben viele nur sehr oberflächliche Kenntnisse und können zu Details kaum Auskunft geben.

Immer mehr führt zu immer oberflächlicherem Wissen

Die Liste an Vorschlägen, was alles in der Schule auch noch behandelt werden sollte, wird indes immer länger, mehr Medienbildung, mehr Finanzwissen, mehr Kunst, mehr Sport usw. Indem wir uns in immer mehr Gebiete verzetteln, geht der Blick aufs Wesentliche verloren: Obwohl ich kein Freund der PISA-Studien bin, sie zeigen, dass Grundfähigkeiten in den Sprachen und in der Mathematik nachlassen. Auch die Freude am Lernen lässt nach und das exponentielle Wachstum an psychischen Problemen und Diagnosen im Zusammenhang mit der Schule ist ein weiterer Hinweis darauf, dass hier etwas gewaltig in die falsche Richtung läuft. Bei allen Veränderungen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten stattgefunden haben, die Grammatik der Schule ist dieselbe geblieben: BPV büffeln, prüfen, vergessen. Es gibt tolle Ausnahmen, Schulen, die es geschafft haben sich von diesem Paradigma zu lösen und wo Schülerinnen und Schüler, sowie die Betreuenden mit Freude in die Schule kommen und wo Grossartiges entsteht. Leider konnten sich solche Konzepte nicht auf breiter Ebene durchsetzen.

Kein Bewertungssystem repräsentiert BPV besser als Noten. Mit den Methoden der Mathematik misst man, was eigentlich nicht messbar ist: das Verstehen. Wir bewerten die Reproduzierleistung der Kinder, manchmal auch die Transferleistung. Das heisst nicht, dass das Auswendiglernen nur schlecht ist. Es ist nötig, dass man in den Sprachen und im jeweiligen Fachgebiet die richtigen Ausdrücke kennt. Auswendiglernen muss aber immer in einem grösseren Zusammenhang stehen, als das reine Wiedergeben von Wörtern und Zahlen. KI hätte eigentlich ein Weckruf sein sollen, dass die Wiedergabe von Wissen inzwischen keine exklusiv menschliche Eigenschaft mehr ist. Je strukturierter Daten sind, können sie inzwischen in sekundenschnelle von Computern wiedergegeben werden. Wenn ich mich aber etwas umsehe, dann wird KI dazu benutzt noch mehr desselben zu produzieren. Grammatikübungen und Rechentraining kann man heute in x-facher Ausführung und in fast beliebigem Schwierigkeitsgrad produzieren lassen. Die «Leistungen» der Schülerinnen und Schüler lassen sich mit ausgeklügelten Statistiken darstellen und bewerten. Auch hier: Skilltraining ist nicht prinzipiell schlecht, es ist wünschenswert, dass sich Schülerinnen und Schüler schriftlich und mündlich korrekt ausdrücken können. Bedenklich ist aber der Wert, den wir diesen Fähigkeiten geben, wenn wir nicht einen Schritt weitergehen. Natürlich kann man einen Grammatiktest bewerten, aber höher wiegt, was die Kinder dann aus diesem Wissen machen: Wenn der Test über die Gross-Kleinschreibung grossartig ausgefallen ist, aber im Aufsatz trotzdem alles kleingeschrieben ist, dann muss man sich fragen, was davon hängen geblieben ist.

LAV – Lernen, anwenden, verstehen

Wir haben uns in der 6. Klasse kürzlich mit Wertschöpfungsketten beschäftigt und uns die Kleiderproduktion vorgenommen. Die Kinder haben gelernt wie Baumwolle geerntet wird, gespürt wie sie sich in den Händen anfühlt und wie man die Baumwollsamen daraus entfernen kann. Dann schauten wir uns an, wie Baumwolle zu Kleidern wird und unter welch fragwürdigen Bedingungen die Näherinnen vielerorts arbeiten. Am Ende schauten wir uns an, wo die getragene Kleidung am Ende landet und dort grosse Probleme bereitet z.B. in afrikanischen Ländern oder in Chile. Wir beschrieben eine Reihe von Massnahmen, wie wir selber etwas gegen die Kleiderflut unternehmen können. Das ist LAV, wir haben etwas über Kleiderproduktion gelernt, wir haben Massnahmen besprochen, was wir dagegen tun können und wir haben verstanden, dass unser Verhalten durchaus auch etwas mit der Situation von Menschen in Afrika und Südamerika zu tun haben kann. Genauso gut könnte man die Kinder vor Weihnachten auch Kekse backen lassen und ihnen ein Rezept auf Französisch oder englisch geben. Wenn man dann noch die Mengen hochrechnen muss und die Dekoration der Kekse auch noch einbezieht, hätte man einen multidisziplinären Bewertungsanlass. LAV ist nicht schwierig umzusetzen, es braucht nur lebensnahe Inhalte, welche die Kinder motiviert mitzumachen. Ich versuche das auch bei sehr trockenen Themen so gut wie möglich umzusetzen. Wir konjugieren jede Woche ein französisches Verb, anschliessend schreiben wir Beispielsätze, die zur Klassensituation passen. Sind ein paar Verben zusammengekommen, führen wir Dialoge und setzen sie szenisch um. LAV ist auch Meinungsbildung: Verschiedene Informationen werden gelesen, gehört oder gesehen, daraus bildet man sich eine eigene Meinung, die man begründen und verteidigen kann.

LAV bewerten

LAV steht in einem grossen Konflikt zu traditionellen Bewertungssystemen. Das Verstehen ist nicht im traditionellen Sinn überprüfbar. Da das Verstehen ein individueller Prozess ist, kann man ihn schlecht beschreiben oder bewerten. Die Frage ist also, muss man es? Während einem ganzen Schuljahr haben wir im Fach NMG keine einzige Prüfung gemacht. Da aber am Ende des Schuljahres eine Note im Zeugnis stehen musste, brauchte es eine Zahl. Wir haben dann mit den Kindern auf eine Selbstbewertung gesetzt. Wir haben diese besprochen und sind gemeinsam auf eine Zahl gekommen. Dabei schauten wir uns verschiedene Kriterien an: Aus der Sicht der Kinder, welche Themen haben sie verstanden. Wenn sie von sich aus angaben es verstanden zu haben, lag es manchmal an den Fähigkeiten, dies in eigenen Worten auszudrücken. Also war dies ein Kriterium an dem sie arbeiten und sich verbessern möchten. Ich habe die Kinder auch schon ihre eigene Prüfung gestalten und schreiben lassen. Das hat geholfen, sich mit dem Gelernten auseinanderzusetzen es zu gewichten und auf das Wichtigste zu reduzieren. Mehr dazu auf: https://didaktis.ch/news/blog/comment-system/beurteilung-einmal-anders

Fazit

Die Diskussion Noten abzuschaffen und durch ein alternatives Bewertungssystem zu ersetzen geht meiner Meinung zu wenig weit. Ersetzen wir Noten nur durch Worte, Farben, Smileys oder was auch immer und bei BPV bleiben, dann ändert sich grundsätzlich nichts. Im Zeitalter von KI und multidisziplinären Herausforderungen braucht es BPV nicht mehr. LAV ist das Lernen der Zukunft.

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